Lastenhefte in schnörkelloser Klarheit

Mit klaren, granularen Anforderungen gegen Unklarheiten im Projekt und wider der Komplexität. Wie der Produktmanager sich, seinen Kollegen und dem Unternehmen einen großen Gefallen tut und hilft Erfolgspotentiale zu heben.

Als Produktmanager habe ich, wie alle anderen auch, Lastenhefte in Prosa geschrieben. Nach der Veröffentlichung im Unternehmen folgten endlose, aufreibende Diskussionen, bis alle Beteiligten meinten dasselbe verstanden zu haben. Beim nächsten Projekt begann das Spiel von vorne. Und trotzdem entsprach das Produkt am Ende dann selten meinen Vorstellungen als Produktmanager.

Dann kam ich mit der Methode „Anforderungsmanagement“ in Kontakt und probierte sie aus. Ergebnis: Meine Aussagen sind plötzlich verständlich, die anschließenden Diskussionen kürzer und konstruktiver. Die verschiedenen Disziplinen aus z.B. Kaufleuten, Juristen, und Ingenieuren aller Couleur verstehen dasselbe, sind effektiver und entspannter in der Zusammenarbeit.

Die Methode „Anforderungsmanagement“ wurde entwickelt, um Produkte interdisziplinär zu entwickeln und dabei ein gemeinsames Verständnis, über das zu entwickelnde System innerhalb des Teams zu haben. In einigen Branchen bereits vorgeschrieben (z.B. Medizintechnik, Automotive), nutzen immer mehr Unternehmen die Methode, denn ihre Vorteile sind unschlagbar.

 

Warum werden Anforderungen besser verstanden als Prosatexte? Dafür gibt es mehrere Gründe:

 

1. Während in Prosatexten ein Satz oft mehrere Sachverhalte zusammenfasst, werden Anforderungen granular formuliert. Sprich: Eine Anforderung enthält genau einen Sachverhalt. Der häufige Versuch, Abhängigkeiten von verschiedenen Aspekten in einem Satz darzustellen, entfällt. Kurze Sätze sind für alle verständlicher und die Verantwortlichkeiten der Beteiligten sind besser zuzuordnen.

2. Verknüpfungen werden in einer Datenbank realisiert, statt in komplizierten, missverständlichen Schachtelsätzen.

3. Jeder versteht die Anforderungen, da sie in natürlicher Sprache geschrieben werden.

4. Anforderungen zu gewünschten Funktionen können einzeln getestet werden und machen so den Erfolg für alle Beteiligten und deren Beitrag sichtbar.

Die oben genannten Gründe leuchten doch ein, oder? Und wie startet der Produktmanager nun in die Welt der Anforderungen [Afo]?

 

Leichter Einstieg

Produktmanager:innen [PM] sitzen glücklicherweise am Anfang der Produktentwicklung. Daher ist ihr Aufwand für die Pflege eines Anforderungsbestandes recht gering. Eine lokal gepflegte Excel-Tabelle reicht als Einstieg. Darin kann jeder PM sofort mit seinem Afo-Bestand loslegen und ihn auf Dienstreisen pflegen. So ist ein schneller Start in die Methode möglich. Später sollten andere Tools genutzt werden. Das wichtigste Werkzeug des PM ist der gesunde Menschenverstand – auch bei Afos. Beliebt ist außerdem die Wortschablone. Aber dazu mehr in einem der nächsten Blogartikel.

 

Kriterien für die Anschaffung des Afo-Tools

Spätestens zu Projektbeginn (sprich: wenn die Ingenieure anfangen, die Lösungen zu entwickeln) sollte auf ein professionelles Anforderungs-Tool mit Datenbankfunktion umgestiegen werden. Für die Projektdurchführung reicht eine Excel-Listen nicht aus. Alle professionellen Anforderungs-Tools können problemlos Excel- oder CSV-Listen importieren. Ich verspreche dem PM: Die Entwicklung wird von der Idee begeistert sein und sich freiwillig um das richtige Afo-Tool kümmern. Dort ist das Afo-Management, sprich die Pflege und Fortschreibung, in guten Händen. Läuft alles nach Plan, wird die Entwicklung jede Nutzeranforderung analysieren und dazu ihrerseits ihre technischen Anforderungen erfassen und mit den Komponenten der Systemarchitektur verbinden. Dadurch steigt die Anzahl der Anforderungen und die Komplexität deutlich.

Die Integration einer Anforderungsdatenbank in die betrieblichen Abläufe ist eine weitrechende Entscheidung und hängt von vielen betrieblichen Faktoren ab. Auf der anderen Seite steht die unübersichtliche Vielzahl der Anbieter. Ich verweise immer sehr gerne an Dr. Andreas Birk, einen erfahrenen Fachmann für Anforderungsdatenbanken und ausgewiesenen Kenner des Marktes. Die Kunden, die seine Empfehlung für eine Anforderungsdatenbank beherzigt haben, nutzen nach kurzer Zeit das Tool erfolgreich. Regelmäßig veröffentlicht Andreas eine Marktübersicht auf seiner Website: https://makingofsoftware.com/list-of-rm-tools/

Ich empfehle jedem PM den Entwicklungsprozess (nur) zu begleiten. Die Aufgabe des PMs ist die Bewertung der angebotenen Lösungen auf die Erfüllung der Nutzeranforderungen und Aktualisierung der Nutzeranforderungen. Damit bleibt der Produktmanager ein Interessenvertreter der Nutzer und ist kein Mitglied des Entwicklungsteams!

 

Denken in Erwartungen statt in Lösungen

Beschreibt der PM die erwartete Funktion oder das erwartete Ergebnis, statt einer Lösung, vermeidet er weitere Missverständnisse. Kunden fordern meistens Lösungen, die ihnen bekannt sind. Der gewitzte PM setzt seine analytischen Fähigkeiten und Soft Skills ein, um das wirkliche Bedürfnis hinter dem Kundenwunsch zu erkennen. Daraus formuliert der PM dann die Anforderungen. Das Dilemma von Lösung und Funktion beschreibt ein Zitat am besten: „Hätte ich meine Kunden gefragt, was sie wollen, hätten sie „Schnellere Pferde“ gesagt.“. Henry Ford, dem dieses Zitat zugeschrieben wird, hat genauer hingehört und eine Lösung für das eigentliche Bedürfnis nach besserer Mobilität geliefert: Das berühmte Ford Modell T, die Tin Lizzy.

PMs die in erwarteten Funktionen und Ergebnissen (und nicht in Lösungen) denken, sind wirklich analytisch und innovativ und bringen das Team und Unternehmen voran. Gehörst Du schon dazu?

 

Die Qual der Wahl

Im Gegensatz zum Prosatext bilden einzelne Afos auch bessere Möglichkeiten zum Priorisieren und Bewerten. Was schön wäre oder was zwingend erforderlich ist – all dies sollte der PM aus der Marktperspektive vor Projektstart festlegen. Meist genügen Unterscheidungen in „Kritisch, Muss, Soll, Kann“. Dann weiß das gesamte Projektteam, auf was es sich konzentrieren muss.

 

Kritisch

Die Forderung ist ein Key-Feature / USP des neuen Produktes. Die Erfüllung ist für den Markterfolg unverzichtbar. Eine Nichterfüllung stellt ein Abbruchkriterium für das Projekt dar.

Muss

Die Forderung prägt den Wesenskern des Systems. Bei Nichterfüllung ist das Projekt auf eine erfolgreiche Umsetzung zu prüfen.

Soll

Die Forderung stellt ein notwendiges Merkmal zur Optimierung der Fähigkeit dar. Bei Nichterfüllung ist der Einfluss auf den Markterfolg zu prüfen und die Entscheidung zu dokumentieren.

Kann

Die Forderung stellt ein Merkmal zur Optimierung dar. Die Nichterfüllung hat geringen Einfluss auf den Markterfolg.

 

Die Quelle der Afos

Eine gute Afo enthält auch immer deren Herkunft. Wer oder was fordert da etwas? Ein Nutzer, ein angrenzendes technisches System oder eine Vorschrift? Damit die Afos nicht aussehen wie aus der Luft gegriffen, sollte sich der PM angewöhnen, Herkunft und Quelle der Afo zu nennen. Mir ist es oft genug passiert, dass ich vergessen habe, woher die Afo eigentlich kam und hing in der Luft. Ist die Quelle bekannt, werden auch gezielte Rückfragen möglich. Änderungen an der Quelle der Afos (z.B. Gesetze) lassen sich leichter verfolgen.

 

Endtest

Ein weiterer Vorteil der Methode ist, dass während und vor allem gegen Ende der Entwicklung, die Anforderungen einzeln abgetestet werden können – im Gegensatz zu einem Prosatext. Ein nicht zu unterschätzender Faktor, der allen Beteiligten Sicherheit gibt.

 

Fazit

Die Methode „Anforderungsmanagement“ ist einfach und bringt dennoch tiefgreifende Verbesserungen für produzierende Unternehmen mit. In einigen Industrien ist sie bereits vorgeschriebener Standard, um der galoppierenden Komplexität Herr zu werden und funktionssichere Systeme zu entwickeln. Ingenieure sind schnell zu überzeugen und auch andere Personengruppen/Bereiche lieben die Afos nach kurzer Zeit – so können alle am gleichen Strang das Projekt zum Erfolg ziehen. Der Produktmanager sollte sich nicht nur auf die Anforderungen der Kunden konzentrieren. Um den Erfolg im Markt zu garantieren, spielen z.B. auch die Afos der verschiedenen Vertriebskanäle eine Rolle. Nicht zuletzt helfen Afos dem PM bei der Differenzierung der unterschiedlichen Produkte seines Portfolios.

Ich bin mir sicher: Will ein Unternehmen in der Mechatronik – und mit ihm der PM – wachsen, führt kein Weg mehr am Anforderungsmanagement vorbei.

 

Der Autor

Jörg Siedel ist mit Leib und Seele Berater für Produktmanagement in der produzierenden Industrie. Er schult die interdisziplinären Teams seiner Kunden im gemeinsamen Kampf gegen Komplexität und für Produkte, die Kunden begeistern. Die Zutaten für den Erfolg: Denkweisen die Innovationen ermöglichen, Methoden, die wirken und Kommunikationskultur die Brücken für gemeinsame Erfolge baut.

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